Charta Oecumenica - Teil 3
III.
Unsere gemeinsame Verantwortung in Europa
"Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden" (Matthäus 5, 9)
7. Europa mitgestalten
Durch die Jahrhunderte hindurch hat sich ein religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägtes Europa entwickelt. Zugleich ist durch das Versagen der Christen in Europa und über dessen Grenzen hinaus viel Unheil angerichtet worden. Wir bekennen die Mitverantwortung an dieser Schuld und bitten Gott und die Menschen um Vergebung.
Unser Glaube hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen und uns dafür einzusetzen, dass der christliche Glaube und die Nächstenliebe Hoffnung ausstrahlen für Moral und Ethik, für Bildung und Kultur, für Politik und Wirtschaft in Europa und in der ganzen Welt.
Die Kirchen fördern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit.
Als Kirchen und als internationale Gemeinschaften müssen wir der Gefahr entgegentreten, dass Europa sich zu einem integrierten Westen und einem desintegrierten Osten entwickelt. Auch das Nord-Süd-Gefälle ist zu beachten. Zugleich ist jeder Eurozentrismus zu vermeiden und die Verantwortung Europas für die ganze Menschheit zu stärken, besonders für die Armen in der ganzen Welt.
Wir verpflichten uns,
- uns über Inhalte und Ziele unserer sozialen Verantwortung miteinander zu verständigen und die Anliegen und Visionen der Kirchen gegenüber den säkularen europäischen Institutionen möglichst gemeinsam zu vertreten;
- die Grundwerte gegenüber allen Eingriffen zu verteidigen;
- jedem Versuch zu widerstehen, Religion und Kirche für ethnische oder nationalistische Zwecke zu missbrauchen.
8. Völker und Kulturen versöhnen
Die Vielfalt der regionalen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen betrachten wir als Reichtum Europas. Angesichts zahlreicher Konflikte ist es Aufgabe der Kirchen, miteinander den Dienst der Versöhnung auch für Völker und Kulturen wahrzunehmen. Wir wissen, dass der Friede zwischen den Kirchen dafür eine ebenso wichtige Voraussetzung ist.
Unsere gemeinsamen Bemühungen richten sich auf die Beurteilung und Lösung politischer und sozialer Fragen im Geist des Evangeliums. Weil wir die Person und Würde jedes Menschen als Ebenbild Gottes werten, treten wir für die absolute Gleichwertigkeit aller Menschen ein.
Als Kirchen wollen wir gemeinsam den Prozess der Demokratisierung in Europa fördern. Wir engagieren uns für eine Friedensordnung auf der Grundlage gewaltfreier Konfliktlösungen. Wir verurteilen jede Form von Gewalt gegen Menschen, besonders gegen Frauen und Kinder.
Zur Versöhnung gehört es, die soziale Gerechtigkeit in und unter allen Völkern zu fördern, vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich sowie die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Gemeinsam wollen wir dazu beitragen, dass Migranten und Migrantinnen, Flüchtlinge und Asylsuchende in Europa menschenwürdig aufgenommen werden.
Wir verpflichten uns,
- jeder Form von Nationalismus entgegenzutreten, die zur Unterdrückung anderer Völker und nationaler Minderheiten führt und uns für gewaltfreie Lösungen einzusetzen;
- die Stellung und Gleichberechtigung der Frauen in allen Lebensbereichen zu stärken sowie die gerechte Gemeinschaft von Frauen und Männern in Kirche und Gesellschaft zu fördern.
9. Die Schöpfung bewahren
Im Glauben an die Liebe Gottes, des Schöpfers, erkennen wir dankbar das Geschenk der Schöpfung, den Wert und die Schönheit der Natur. Aber wir sehen mit Schrecken, dass die Güter der Erde ohne Rücksicht auf ihren Eigenwert, ohne Beachtung ihrer Begrenztheit und ohne Rücksicht auf das Wohl zukünftiger Generationen ausgebeutet werden.
Wir wollen uns gemeinsam für nachhaltige Lebensbedingungen für die gesamte Schöpfung einsetzen. In Verantwortung vor Gott müssen wir gemeinsam Kriterien dafür geltend machen und weiter entwickeln, was die Menschen zwar wissenschaftlich und technologisch machen können, aber ethisch nicht machen dürfen. In jedem Fall muss die einmalige Würde jedes Menschen den Vorrang vor dem technisch Machbaren haben.
Wir empfehlen, einen ökumenischen Tag des Gebetes für die Bewahrung der Schöpfung in den europäischen Kirchen einzuführen.
Wir verpflichten uns,
- einen Lebensstil weiter zu entwickeln, bei dem wir gegen die Herrschaft von ökonomischen Zwängen und von Konsumzwängen auf verantwortbare und nachhaltige Lebensqualität Wert legen;
- die kirchlichen Umweltorganisationen und ökumenischen Netzwerke bei ihrer Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung zu unterstützen.
10. Gemeinschaft mit dem Judentum vertiefen
Eine einzigartige Gemeinschaft verbindet uns mit dem Volk Israel, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen hat. Im Glauben wissen wir, dass unsere jüdischen Schwestern und Brüder "von Gott geliebt sind, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt" (Röm. 11, 28-29). Sie haben "die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheissungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus" (Röm. 9, 4-5).
Wir beklagen und verurteilen alle Manifestationen des Antisemitismus, wie Hassausbrüche und Verfolgungen. Für den christlichen Antijudaismus bitten wir Gott um Vergebung und unsere jüdischen Geschwister um Versöhnung.
Es ist dringend nötig, in Verkündigung und Unterricht, in Lehre und Leben unserer Kirchen die tiefe Verbindung des christlichen Glaubens zum Judentum bewusst zu machen und die christlich-jüdische Zusammenarbeit zu unterstützen.
Wir verpflichten uns,
- allen Formen von Antisemitismus und Antijudaismus in Kirche und Gesellschaft entgegenzutreten;
- auf allen Ebenen den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen und zu intensivieren.
11. Beziehungen zum Islam pflegen
Seit Jahrhunderten leben Muslime in Europa. Sie bilden in manchen europäischen Ländern starke Minderheiten. Dabei gab und gibt es viele gute Kontakte und Nachbarschaft zwischen Muslimen und Christen, aber auch massive Vorbehalte und Vorurteile auf beiden Seiten. Diese beruhen auf leidvollen Erfahrungen in der Geschichte und in der jüngsten Vergangenheit.
Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog wollen wir auf allen Ebenen intensivieren. Insbesondere empfehlen wir, miteinander über den Glauben an den einen Gott zu sprechen und das Verständnis der Menschenrechte zu klären.
Wir verpflichten uns,
- den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen;
- bei gemeinsamen Anliegen mit Muslimen zusammenzuarbeiten.
12. Begegnung mit anderen Religionen und Weltanschauungen
Die Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Lebensformenist ein Merkmal der Kultur Europas geworden. Östliche Religionen und neue religiöse Gemeinschaften breiten sich aus und finden auch das Interesse vieler Christinnen und Christen. Auch gibt es immer mehr Menschen, die den christlichen Glauben ablehnen, sich ihm gegenüber gleichgültig verhalten oder anderen Weltanschauungen folgen.
Wir wollen kritische Anfragen an uns ernst nehmen und uns gemeinsam um eine faire Auseinandersetzung bemühen. Dabei ist zu unterscheiden, mit welchen Gemeinschaften Dialoge und Begegnungen gesucht werden sollen und vor welchen aus christlicher Sicht zu warnen ist.
Wir verpflichten uns,
- die Religions- und Gewissensfreiheit von Menschen und Gemeinschaften anzuerkennen und dafür einzutreten, dass sie individuell und gemeinschaftlich, privat und öffentlich ihre Religion der Weltanschauung im Rahmen des geltenden Rechtes praktizieren dürfen;
- für das Gespräch mit allen Menschen guten Willens offen zu sein, gemeinsame Anliegen mit ihnen zu verfolgen und ihnen den christlichen Glauben zu bezeugen.
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Jesus Christus ist als Herr der einen Kirche unsere grösste Hoffnung auf Versöhnung und Frieden. In seinem Namen wollen wir den gemeinsamen Weg in Europa weitergehen. Wir bitten Gott um den Beistand seines Heiligen Geistes.
"Der Gott der Hoffnung erfülle uns mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit wir reich werden an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes" (Röm. 15,13)
Als Präsidenten der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen empfehlen wir diese Charta Oecumenica als Basistext allen Kirchen und Bischofskonferenzen von Europa zur Annahme und Umsetzung in ihrem jeweiligen Kontext.
Mit dieser Empfehlung unterschreiben wir die Charta Oecumenica im Rahmen der Europäischen Ökumenischen Begegnung am ersten Sonntag nach den gemeinsamen Ostern im Jahre 2001.
Strassburg, den 22. April 2001
Metropolit Jéremie Kardinal Vlk
Präsident der Präsident des Rates Konferenz Europäischer Kirchen der Europäischen Bischofskonferenzen